„Was nicht im Lehrbuch steht“ – ein Aufruf zum kritischen Diskurs an Praxis – Management – Ausbildung – Forschung

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vieles was wir in der psychiatrischen Pflege täglich tun, steht in keinem Lehrbuch, wurde nie verschriftlicht und schon gar nicht auf wissenschaftliche Evidenz hin überprüft. Oft fehlt es uns an sprachlichen Möglichkeiten, Phänomene fassbar und bearbeitbar zu machen. „Das Ende meiner Sprache ist das Ende meiner Welt“, so formulierte der Philosoph Wittgenstein vor ungefähr 100 Jahren. Unsere Erfahrung lässt jedoch begründet hoffen, dass unser Tun in der Praxis erfolgreich sein kann. Wie gelingt es unser Wissen, innovative Ansätze oder beispielhafte Praxis in Worte zu fassen, in Lehrbüchern oder Zeitschriften zu verschriftlichen und damit auch an andere weiterzugeben? Wie können wir Wissensmanagement in Institutionen so organisieren, dass das Behandlungsergebnis den Anforderungen genügt? Und was ist ein gutes Behandlungsergebnis? Wie gehen wir mit Fragen, Unsicherheiten und Herausforderungen um, zu denen es bisher keine Antworten aus dem Lehrbuch oder der Wissenschaft gibt?

Diese Fragen möchten wir am 17. Dreiländerkongress Pflege in der Psychiatrie zum Thema „Was nicht im Lehrbuch steht“ diskutieren. Im Zentrum stehen die Fragen, wie wir unser tägliches Tun begründen und was uns neben dem verschriftlichen Wissen in unsere Praxis leitet? Wie können wir unsere Erfahrung, Intuition und die Expertise unserer Patientinnen und Patienten sowie Klientinnen und Klienten nutzen, um unsere tägliche Praxis zu verbessern oder allenfalls auch zu begründen?

Vielleicht ist bei Ihnen auch schon die Frage aufgekommen, wozu es denn noch Lehrbücher braucht neben den immer zahlreicheren Praxisleitlinien der Fachgesellschaften? Was funktioniert gut, auch wenn es nicht im Lehrbuch steht? Oder was funktioniert in der Praxis anders, als wir es in der Ausbildung oder aus den Lehrbüchern gelernt haben? Wie begründen wir das Erfahrungswissen, das uns in der täglichen Arbeit leitet und welches meist mündlich oder durch Vorbildfunktion überliefert wird? Wo stossen wir an Grenzen – sei es durch rechtliche oder ethische Aspekte?

Ja, in der Pflege im Speziellen und der Psychiatrie im Allgemeinen, wird viel Wissen noch immer über Kanäle jenseits des geschriebenen Wortes weitergegeben. Viele Pflegende bevorzugen einen mündlichen Übergaberapport gegenüber schriftlichen Informationsübergaben. Gelungene Pflegemassnahmen oder Projekte werden lieber während eines Mittagessens besprochen, als in einem Artikel oder Bericht beschrieben oder an einem Kongress präsentiert zu werden. «Das ist ja nicht so wichtig» oder «ich kann das nicht in Worte fassen» hören wir immer wieder auf die Aufforderung, Erfahrungen an einem Kongress oder in einer Fachzeitschrift zu präsentieren. Dies führt jedoch auch dazu, dass das Wissen und die Praxis in den unterschiedlichen Systemen und Kulturen „gefangen“ bleibt und den Weg nicht nach aussen zu einem breiteren Publikum findet und somit auch zu einem Diskurs führen kann.

Wir laden Sie ein, in Austausch zu treten und Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, die Sie vielleicht abseits des Lehrbuchwissens sammeln konnten, einem breiteren Publikum zur Verfügung zu stellen. Nutzen Sie die Gelegenheit, diese zu diskutieren und die Praxis der psychiatrischen Pflege zu erweitern! Gleichzeitig bietet Ihnen der Kongress die Gelegenheit, Ihr Wissen zu erweitern – mit Wissen und Erfahrungen, die Ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich gesammelt haben.

Wir freuen uns auf Ihre Beiträge und darauf, Sie in Bern begrüssen zu dürfen.

Prof. Dr. Sabine Hahn
Anna Hegedüs
Christian Burr
Caroline Gurtner
Udo Finklenburg
Jaqueline Rixe
Dr. Ian Needham
Dr. Susanne Schoppmann
Prof. Dr. habil. Michael Schulz
Dr. Harald Stefan

Weitere Informationen zum Kongress finden Sie auch auf folgenden Webseiten:

www.pflege-in-der-psychiatrie.eu

Wir freuen uns, Sie in Bern im September 2020 begrüßen zu dürfen.

Für das Kongresskomitee: